Ein Wiesbadener Zeitzeugengespräch erinnert an Krieg, Zerstörung und Neuanfang. Zwei Männer berichten, was Demokratie bedeutet – und was sie kostet.
Ein Gespräch, das keine Fragen offen ließ. Ein Zeitzeugengespräch in den Räumen der Casino-Gesellschaft. Es trafen sich zwei Männer, deren Lebenswege mit der Geschichte verbunden sind. Rudi Schmitt, ehemaliger Oberbürgermeister Wiesbadens, und Dr. Gerhart Best, Mediziner und Chefarzt a.D., erzählten offen und bewegend vom Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Chaos der Nachkriegszeit und dem langen Weg zur Demokratie.
„Wir wollten überleben – und gestalten“
Peter Schirmer, Vorsitzender der Gesellschaft, eröffnete den Abend mit einem klaren Bekenntnis zur historischen Verantwortung: Wir wollen zwei Männer zu Wort kommen lassen, die das Kriegsende selbst erlebt und den demokratischen Neubeginn mitgestaltet haben. Es folgte eine kluge Moderation von Stefan Schröder, dem ehemaligen Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers, der die Erinnerungen der beiden Zeitzeugen in den Raum holte – eindrücklich, ohne Pathos.
Vom Kriegsjungen zum Lehrer – ohne Abitur
Rudi Schmitts Weg in den Lehrerberuf war alles andere als gewöhnlich. Mit 14 Jahren hatte man ihn noch als Panzerhelfer zwangsverpflichtet, wenige Monate später stand er vor einer Schulklasse. Ohne Abitur, ohne Ausbildung im heutigen Sinne – aber mit einem Auftrag: Aufbau leisten, erziehen, Hoffnung geben.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes brauchte das Land Lehrer. Viele der alten Pädagogen waren belastet, Mitglieder der NSDAP, aus dem Dienst entfernt. Also wurden neue Wege gegangen. Schmitt, der schon mit 14 Jahren eine Lehrerbildungsanstalt besucht hatte, wurde 1946 nach nur einem Semester Ausbildung als Lehramtsanwärter eingestellt – mit einem Monatsgehalt von 142 Reichsmark und einer Klasse mit über 60 Kindern.
Sein Klassenzimmer war oft ein provisorischer Raum, sein Schulstoff von den Trümmern des Krieges überschattet. Doch es war der Beginn eines Berufslebens, das nicht nur Bildung vermittelte, sondern demokratische Haltung – gewachsen aus eigener Erfahrung. Schmitt selbst hat später nie verschwiegen, wie groß die Verantwortung war, der Jugend Orientierung zu geben – in einer Zeit, in der kaum etwas feststand, außer: Nie wieder. Das alles in Frankfurt.

Wiesbaden in Trümmern – Dr. Best erinnert sich
Für Dr. Gerhart Best war das Kriegsende keine historische Marke – es war ein persönlicher Wendepunkt. Der gebürtige Wiesbadener hatte den Luftangriff in der Nacht zum 3. Februar 1945 als Jugendlicher erlebt. Die Bomben fielen mitten in der Stadt, das Quellenviertel versank in Trümmern. Er selbst wurde mit seiner Familie verschüttet – im Keller eines Hauses in der Löhnstraße. Nur durch einen glücklichen Zufall konnte er sich durch eine Wasserleitung ins Freie retten.
Später fand er notdürftig Zuflucht in einem Raum, der einst der Feuerwehr als Geräteablage gedient hatte. In dieser Enge, zwischen Ruß und Geröll, wurde ihm schlagartig bewusst, was Krieg bedeutet: Angst, Ohnmacht, Verlust.
Doch es kam noch schlimmer. Nur Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner geriet Best beinahe in die Fänge des Volkssturms. Zwei Männer in Uniform versuchten, ihn und einen Schulfreund zum letzten Aufgebot zu zwingen. Sie nahmen die beiden Jungs mit zum Lusienplatz. Nach einer kurzen Waffenkunde … soweit kam es aber nicht. Die beiden stifteten und die Zivilcourage des Hausmeisters vom Leibnitz Gymnasium rettete sie – er versteckte die Jungen in einem Schrank und täuschte die Männer in Uniform. Wäre das anders ausgegangen, so sagte Best später, hätte man sie womöglich auf dem Schulhof erschossen.
Diese Erfahrung, diese Nähe zur letzten Katastrophe, blieb ihm sein Leben lang eingebrannt. Und sie prägt seinen Blick auf die Zeit danach: das vorsichtige Erwachen der Demokratie, die Rückkehr der Menschlichkeit – und die Verantwortung, die daraus erwuchs. Noch Jahrzehnte später erinnert er sich mit klarem Blick an diese Tage: Wenn Menschen in Not zusammenhalten, wächst etwas, das stärker ist als jede Ideologie.

„Weiße Bettlaken statt Barrikaden“
Der langjährige Redakteur Manfred Gerber schildert seine Erinnerungen ans Kriegsende, – dass in Wiesbaden zwei Monate früher und bereits am 28. März 1945 Realität wurde. Das war mehr als nur ein historisches Datum. Es war der Tag, an dem Wiesbaden sein Gesicht veränderte – nicht durch Gewalt, sondern durch Vernunft. Der Einmarsch der US-amerikanischen Truppen verlief – im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten – vergleichsweise friedlich.
Gerber schilderte, wie die Amerikaner über die heutige Biebricher Allee, damals noch Hindenburgallee, vorrückten. Schon am Vorabend hatte eine Vorhut auf die beiden Rheininseln übergesetzt, die letzten deutschen Verteidiger hatten sich da größtenteils selbst aufgelöst. Statt auf Widerstand stießen die US-Einheiten auf weiße Fahnen – improvisiert aus Bettlaken, Tischtüchern, Kinderhemden. Auch der Hochbunker neben dem Museum zeigte das weiße Laken als Symbol der Kapitulation.
Ein Glücksfall für Wiesbaden – aber kein Zufall. Der örtliche Wehrmachtskommandeur, Oberst Zierenberg, hatte sich über den fanatischen Durchhaltebefehl aus Berlin hinweggesetzt und den kampflosen Einmarsch ermöglicht. Eine Entscheidung mit Weitblick – und mit Mut.
Gerber betonte, dass es nur vereinzelte Gefechte gegeben habe, meist durch Panzerfäuste aus Versehen oder aus Unwissenheit gezündet. Dennoch kostete der letzte Widerstand ein halbes Dutzend Menschen das Leben. Das hätte viel schlimmer ausgehen können, meinte der Journalist – und verwies auf die schweren Zerstörungen in benachbarten Städten wie Mainz und Darmstadt.
Er erinnerte sich an Berichte, wonach ein junges Mädchen mit dem Fahrrad durch eine marschierende US-Kolonne fuhr – und die Soldaten ihr bereitwillig Platz machten. Sie kamen als Eroberer, aber sie traten nicht auf wie Unterdrücker, sagte Gerber. Für viele Kinder wurde dieser Tag zum ersten Kontakt mit Schokolade, Konserven und – fast noch fremder – mit Freundlichkeit von Fremden.
Die Mahnung für heute
Was bleibt, ist der Appell der beiden Zeitzeugen: Erinnerung ist kein Selbstzweck. Sie ist Verpflichtung. Dr. Gerhart Best und Rudi Schmitt machten deutlich, dass das Wissen um die Vergangenheit kein museales Gut, sondern ein politisches Fundament ist. Wer Geschichte nicht kennt, läuft Gefahr, sie zu wiederholen – mit anderen Parolen, aber demselben Gift.
Rudi Schmitt erinnerte eindringlich daran, wie schnell sich der Einzelne in den Strom der Masse verliert. Wie leicht man Mitläufer wird, aus Bequemlichkeit, aus Angst, aus dem Wunsch dazuzugehören. Und wie schwer es war, die eigene Haltung zu bewahren, wenn das System jeden Zweifel kriminalisierte. „Es war leichter, zu schweigen, als zu widersprechen“, sagte er, „aber wer schweigt, macht sich mitverantwortlich.“
Die klare Haltung, die er daraus entwickelte, ist bis heute spürbar. Für Schmitt, der als Lehrer und später als Oberbürgermeister jahrzehntelang Verantwortung trug, war die Demokratie nie selbstverständlich. Sie musste erarbeitet, erklärt, verteidigt werden – auch gegen Widerstände im eigenen Umfeld. Seine politische Laufbahn, geprägt von sozialer Gerechtigkeit und Bildungsengagement, wuchs aus der Erkenntnis: Nie wieder darf sich der Staat gegen seine Bürger richten.

Gegen das Vergessen
In einer Zeit, in der rechtsextreme Parolen wieder auf Marktplätzen skandiert werden, in der Hass sich hinter vermeintlicher Meinungsfreiheit tarnt und autoritäre Denkweisen in Parlamente drängen, gewinnt das Wort der letzten Zeitzeugen eine erschütternde Aktualität. Das Gespräch mit Rudi Schmitt und Dr. Gerhart Best war mehr als eine Rückschau – es war eine Mahnung mit klarem Ton, eine Ermutigung zum Widerspruch, ein Aufruf zur Wachsamkeit.
Wer diesen beiden Männern beim Zeitzeugengespräch zuhörte, hörte nicht nur Geschichte – sondern Verantwortung. Ihre Stimmen waren leise, aber bestimmt, voller Klarheit und Würde. Sie erzählten nicht, um zu klagen, sondern um zu erklären. Nicht, um Schuld zu verteilen, sondern um Bewusstsein zu wecken. Ihr Wissen ist nicht in Archiven verstaubt, sondern in Erfahrung gegossen – und damit unbezahlbar.
Fotos – Rudi Schmitt, Mafred Gerber und Dr. Gerhart Best im Gespräch mit Stefan Schroeder ©2025 Volker Watschounek
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