Wiesbaden erinnerte an das Kriegsende mit Musik, Geschichte und Haltung – ein bewegender Abend über Freiheit, Verantwortung und die Kraft der Erinnerung.
Ein Cello begann zu erzählen. Sanft, zögernd, beinahe fragend. Die ersten Töne des Abends im Wiesbadener Rathaus waren kein Auftakt, sie waren Einladung – zur Erinnerung, zum Zuhören, zum Mitfühlen. Wiesbaden gedachte am Sonntagabend 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem Gedenkkonzert, das keine Konventionen bediente, sondern berührte.
Fünf Musikerinnen und Musiker aus Deutschland, Rumänien, Schweden, der Ukraine und China verbanden die Klänge ihrer Instrumente zu einem Klangbild der Vielfalt. Ihre Herkunft war Programm. Ihre Werke – von Schostakowitsch bis Bertók – erzählten von Verfolgung und Verlust, von Überleben und Hoffnung. Das Ensemble – Gernot Süßmut, Xunyu Zhou, Ramon Jaffé, Danylo Semenyuk und Monica Gutmann – setzte ein Zeichen für Verständigung – über Sprachen, Grenzen und Generationen hinweg.
„Nie wieder“ ist kein Zustand, sondern ein täglicher Auftrag
„Die Zukunft liegt in euren Händen“, sagte Dr. Katharina Lukat vom Stadtarchiv Wiesbaden in ihrem Impulsvortrag. Ihr Rückblick reichte über das Jahr 1945 hinaus – hinein in eine Gegenwart, die erschreckend vertraut wirkt. Der 8. Mai sei nicht nur ein Ende, sondern ein Anfang gewesen. Der Beginn der Demokratie in einem Land, das sich selbst neu erfinden musste – zwischen Trümmern, Schweigen und Schuld.

Und dieser Weg war lang. Die Geschichte von Charlotte Guthmann, Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, zeigt, wie schwer es war, wieder anzukommen – in einer Gesellschaft, die wegschaute, verdrängte, vergaß. Als sie 1945 nach Wiesbaden zurückkehrte, träumte sie von offenen Armen. Stattdessen: Schweigen, Abwehr, Ablehnung. Die Verfolger waren noch da, die Wegseher auch.
Das Schweigen der anderen
Guthmanns Erzählung steht für viele. Für diejenigen, die überlebt hatten – und feststellen mussten, dass das Land sich zwar befreit, aber noch lange nicht verwandelt hatte. Auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer berichtete Jahrzehnte später von ähnlichen Erfahrungen: dem Gefühl, nicht gesehen zu werden. Ihrem Leitsatz – „Erinnerung ist kein Schmerz, sondern Pflicht“ – wurde an diesem Abend Raum gegeben.
Denn das Wiesbadener Konzert war mehr als musikalische Geste. Es war Mahnung. Gerade jetzt, wo in Europa wieder Krieg herrscht, wo rechte Kräfte zunehmen, wo Hass neue Masken trägt, gewinnt der mehrfach zitierte Satz „Nie wieder“ neue Bedeutung. Er ist kein historisches Zitat mehr. Er ist Handlungsaufforderung.
Vom Verdrängen zum Erinnern
Der Weg dorthin war steinig. Noch 1950 machte ein FDP-Abgeordneter namens Wolfgang Hedler im Bundestag den Widerstandskämpfern den Vorwurf, „am Untergang Deutschlands mitschuldig“ zu sein. Er wurde angeklagt – und freigesprochen. Zwei der drei Richter waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. Das Urteil löste bundesweite Proteste aus. Aber auch das: nur ein Tropfen im Strom des Schweigens.
In Wiesbaden, wie in vielen deutschen Städten, spürten Rückkehrerinnen wie Claire und Charlotte Guthmann die Kälte einer Gesellschaft, die lieber nach vorn schaute, als zurück. Ihr Haus war beschlagnahmt worden, der Besitz enteignet, das Misstrauen groß. Die Frage, warum sie überlebt hatten, stand unausgesprochen im Raum – und wurde dennoch gehört.
Demokratie ist nichts, was einfach bleibt
Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende erinnerte in seiner Ansprache daran, dass Demokratie kein Geschenk sei. Sie müsse gelebt, verteidigt, erneuert werden. Gerade heute. In einer Welt, die wieder polarisiert, die alte Muster neu auflegt. In der Menschenrechte, Vielfalt und Anstand keine Selbstverständlichkeit mehr sind.
Musik könne helfen, sagte er. Weil sie berühre, ohne zu verletzen. Weil sie das Unsagbare hörbar mache. Weil sie öffne – für das, was war, und für das, was sein könnte.

„Nie wieder“ beginnt im Heute
Der Konzertabend im Wiesbadener Rathaus war keine nostalgische Erinnerung. Er war Aufruf. Zur Wachsamkeit, zur Haltung, zum Handeln. Die Musiker, die Redner, das Publikum – sie verbanden Geschichte mit Gegenwart, Klang mit Klarheit, Schmerz mit Hoffnung.
Der 8. Mai 1945 war ein historischer Wendepunkt. Doch ob er auch Zukunft bleibt, hängt nicht von der Vergangenheit ab. Sondern von uns. Heute. Und morgen
Symbolfoto – Gedenkveranstaltung ©2025 Volker Watschounek
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