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Erinnern im Rahmen der Gedenkfeier im Mahnmal „namentliches Gedenken" am Michelsberg

„Wir können Geschichte nicht ungeschehen machen“

Mahnung und Verpflichtung. Erinnerung in Schmerz und Scham – an die Ereignisse vor 83 Jahren – an die Pogromnacht, an den 9. November 1938. Wer die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte machen will, „der handelt gegen uns, gegen die gesamte Stadtgesellschaft“.

Volker Watschounek 2 Jahren vor 1

1700 Jahre jüdisches Leben, Reichspogromnacht, ein vertrauensvoller mühsamer Neuanfang, 75 Jahre Jüdische Gemeinde in Wiesbaden (Neugründing), 55 Jahre Synagoge (Neubau): Erinnern.

Am Morgen des 10. November 1938 ist Hubert Maurer, der Hausmeister der Wiesbadener Synagoge, zum Michelsberg gegangen. Dort stellte er fest, dass das Haupttor offen stand. Durch das Schlüsselloch habe er gesehen, dass sich innerhalb der Synagoge mehrere Personen befanden, welche offene Fackeln in den Händen trugen, so hat es der Hausmeister 1959 im Zuge eines Wiedergutmachungsverfahrens zu Protokoll gegeben. Erinnern: In einer ergreifenden Rede hat auch Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende am Dienstagabend im Mahnmal Namentliches Gedenken daran erinnert – und im Jubiläumsjahr die widersprüchliche 1700-jährige Geschichte der Juden ins Gedächtnis gerufen.

Redemanuskript

Ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321, das Juden Zugang zu bestimmten öffentlichen Ämtern ermöglicht hat,  gilt als erstes Zeugnis jüdischen Lebens nördlich der Alpen. In ganz Deutschland wird dieses historische Ereignis mit zahlreichen Veranstaltungen entsprechend gewürdigt und gefeiert. Wir alle sind in diesem Jahr besonders eingeladen, uns bewusst zu machen, wie vielfältig sich 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland heute darstellen. Und doch ist die deutsch-jüdische Geschichte von Beginn an eine Geschichte voller Widersprüche. Widersprüche, geprägt vom alltäglichen Miteinander und von Spannungen mit der nicht-jüdischen Umgebung.

Von Phasen der Toleranz und Zeiten der Ausgrenzung, von Wellen der Verfolgung und Erfolgen in Kunst und Kultur, in Wissenschaft und Wirtschaft. Und von einem beispiellosen Menschheitsverbrechen, das das Ziel verfolgte, durch industriell organisierten Massenmord das Judentum auszulöschen.

Lebendige Gemeinde

Auch die Wiesbadener Juden kennen diese Geschichte. Die Stadt ist heute Heimat einer ausgesprochen lebendigen Jüdische Gemeinde, die zwar noch nicht 1700 Jahre hier verwurzelt ist, die aber mit ihren ca. 900 Mitgliedern und mit einer Vielzahl von Aktivitäten aus unserer Stadtgesellschaft nicht wegzudenken ist. Für das aktuelle jüdische Leben in unserer Stadt sind es zwei weitere Jubiläen, die dieses Jahr so besonders machen: die Neugründung der Jüdischen Gemeinde vor 75 Jahren und der Neubau der Synagoge in der Friedrichstraße vor 55 Jahren als Zentrum jüdischen Lebens in Wiesbaden. Dabei dürfte es – hätten die Nationalsozialisten seinerzeit ihr grausames Werk vollenden können – diese drei Jubiläen gar nicht geben: kein jüdisches Leben mehr in Deutschland, keine Jüdische Gemeinde in Wiesbaden oder in anderen deutschen Städten und auch keine Synagogen mehr in unserem Land.

Novemberpogromen

Wir, Juden und Nichtjuden in Wiesbaden, stehen heute Abend gemeinsam hier an diesem besonderen Ort, am Standort der alten Synagoge am Michelsberg, und dass wir hier stehen können, mutet immer noch an wie ein Wunder, wenn man sich vor Augen hält, was die Nazis, was wir Deutsche, dem Jüdischen Volk zwischen 1933 und 1945 angetan haben. Daran erinnern wir heute, wie in jedem Jahr, an die unvorstellbaren Gräuel der Shoah, die mit den Novemberpogromen 1938 ein erstes, für Jedermann sichtbares Zeichen darstellten, für all das, was in der Folge noch kommen sollte.

Erinnerung lebendig halten

Die Pogrome markierten den Auftakt zur geplanten systematischen Vernichtung des gesamten Jüdischen Volks, die in der Ermordung von etwa sechs Millionen jüdischer Menschen in ganz Europa gipfelte. Sechs Millionen Menschen! Menschen mit individuellen Geschichten, Träumen, Leidenschaften, Ansichten, die mitten unter ihren Nachbarn, Freunden oder Arbeitskollegen gelebt haben. Sie wurden vor aller Augen und Ohren verfolgt, entrechtet und deportiert. 
Der Ermordeten zu gedenken ist das Mindeste, das wir heute noch für sie tun können. Zu diesem Wenigen gehört auch, dass wir uns verpflichtet fühlen im Gedenken und in der Erinnerung, vor allem aber im Kampf gegen den offenbar unausrottbaren und nicht enden wollenden Antisemitismus. Deshalb sind wir heute hier!

Nach der Shoah schien jüdisches Leben in Deutschland unmöglich. Wer in Deutschland überlebt hatte, dem war die alte Heimat fremd geworden. Fremd und unerträglich. Wen die Nachkriegswirren nach Deutschland zwangen, der wollte meist so schnell wie möglich weg: in die USA oder ins gelobte Land, nach Israel. Wer dennoch blieb, tat dies meist nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Alternativen. Und so war es auch hier bei uns in Wiesbaden: die wenigen Juden, die zurückgekommen waren, hatten keine Möglichkeit, frei zu entscheiden, wo sie gerne leben wollten. Sie waren gestrandet und gezwungen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Und dann geschah das, was man aus heutiger Sicht getrost als Wunder bezeichnen darf: im Dezember 1946 entzündete Captain William Dalin, amerikanischer Soldat und Rabbiner die Kerzen des Chanukka-Leuchters in der bescheiden renovierten alten Synagoge in der Friedrichsstraße.

Neuanfang

Es war der Neubeginn Jüdischen Lebens in Wiesbaden nach dem zweiten Weltkrieg und niemand konnte vorhersehen, ob und wie eine Jüdische Gemeinde in unserer Stadt jemals wieder Fuß fassen würde. Die Einweihung der Synagoge war Anfang eines vermutlich schmerzhaften und schweren Prozesses für die Mitglieder der jungen Gemeinde, auf dem Weg, sich wirklich zum Leben hier in Wiesbaden zu bekennen. Vertrauen in den neuen deutschen Staat musste langsam und mühsam wieder aufgebaut werden, und auch auf Seite der Wiesbadener Bürger gab es sicher lange noch Vorbehalte und Beklemmungen, sicher auch aus Schuldgefühlen und Scham.Spätestens aber mit der Entscheidung zum Neubau der Synagoge in der Friedrichstraße und mit der feierlichen Einweihung am 11. September 1966, also vor fast genau 55 Jahren, hat die inzwischen wieder deutlich gewachsene Jüdische Gemeinde ein starkes Bekenntnis zum Bleiben und zum Glauben an eine Zukunft jüdischen Lebens in Wiesbaden abgelegt.

Jubiläen

Die Jüdische Gemeinde kann heute mit Stolz darauf zurückblicken, was sie in den vergangenen 75 Jahren aufgebaut und erreicht hat. Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Sprachen haben hier zusammengefunden.Juden aus Halb-Europa fanden den Weg nach Wiesbaden. Hier fand Integration im besten Wortsinn statt.
Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990ern, stellte der Zuzug von zahlreichen Juden aus den ehemaligen Sowjetstaaten die jüdische Gemeinde vor die immense Herausforderung, auch diese Menschen, sowohl in die jüdische, als auch in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sie haben diese Aufgabe gemeinsam bewältigt, sie haben die Neuen mit offenen Armen empfangen, auf ihrem alles andere als einfachen Weg nach Kräften begleitet und bieten Ihren Mitgliedern ein Zentrum und das Gefühl von Heimat.

Verantwortung tragen

Und heute? Heute liegt es in unserer Verantwortung, dass wir den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde auch in Zukunft die Gewissheit geben können, sich hier in Wiesbaden, in ihrer Heimat, wohl und sicher fühlen zu können. Das ist eine zentrale Aufgabe in unserer Stadt, in unserem Land, und eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft im Kampf um eine tolerante und freie Gesellschaft ohne Rassismus und Antisemitismus.

Denn die täglichen Nachrichten lassen keinen Zweifel und spätestens der schreckliche Anschlag in Halle vor zwei Jahren, bei dem nur eine massive Holztür das Schlimmste verhinderte, hat es Jedem gezeigt: Rassismus und Antisemitismus sind wieder salonfähig in Deutschland, werden immer offener und ungehemmter zur Schau getragen und führen immer häufiger zu immer schlimmerer Gewalt. Sie waren wohl nie aus unserer Gesellschaft verschwunden, sind vielmehr seit Jahrhunderten in vielen Köpfen verankert. Aber vielleicht auch unterstützt durch die massive Verunsicherung der Menschen in der Corona-Krise finden die hasserfüllten Botschaften von Agitatoren und Demagogen inzwischen einen lange nicht für möglich gehaltenen Nährboden. Das „was“ und „wie“ des Sagbaren wird dabei immer extremer, scheint inzwischen nahezu grenzenlos. Dem müssen wir uns mit aller Entschiedenheit entgegenstellen!

Aufklärung und Erinnerungsarbeit

Das geht immer noch am besten durch Aufklärung, politische Bildung, Erinnerungsarbeit, die mir auch ganz persönlich sehr am Herzen liegt. Es liegt in unser aller Verantwortung, dafür zu sorgen, dass nirgendwo auf dieser Welt Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft, aufgrund von Überzeugungen oder Religion, oder auch wegen ihrer Gesundheit oder Leistungsfähigkeit ausgegrenzt, diskriminiert, verfolgt und bedroht werden.

Wir können Geschichte nicht ungeschehen machen. Durch kritische Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit haben wir es in der Hand, eine Gesellschaft zu fördern, in der wir offen, tolerant und respektvoll miteinander umgehen und so Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus keinen Raum geben. Wiesbaden steht im Kampf gegen Antisemitismus und Gewalt an der Seite der Jüdischen Gemeinde – auch gegen den Antisemitismus, der das Existenzrecht Israels gefährdet oder gar leugnet. 83 Jahre nach den Novemberpogromen ist und bleibt die Jüdische Gemeinde ein lebendiger und sehr wichtiger Teil unserer Stadtgesellschaft. Wer ihre Mitglieder ausgrenzt und schmäht, wer Gewalt androht oder ausübt, wer die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte in unserer Stadt vergessen machen will, der handelt gegen uns alle, gegen die ganze Stadtgesellschaft! Dagegen wehren wir uns! Gemeinsam und mit allen demokratischen Mitteln, um uns allen auch weiterhin eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Sicherheit zu erhalten.

Shalom. 

Impressionen

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Erinnern, Geschichte zu Leben erwecken: Das machten auch wieder die Schüler des Leistungskurses Geschichte Q3 der Carl-von-Ossietzky Schule. Um die Erinnerung wach zu halten, inszenierte der Leistungskurs unter der Leitung von Schulleiter Niko Lamprecht Briefe des Exils und des Abschieds: sechs Briefe, sechs Rosen und sechs Kerzen. Darunter auch Brief von Hedwig Bielschowsky aus der Walkmühlstraße 89 – ein Abschiedsbrief an ihre Söhne Ludwig und Wilhelm, bevor sie am 29. August 1942 in den Freitod flieht.

Fotos ©2021 Volker Watschounek

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Informationen zur Reichspogromnacht finden Sie auf den Internetseiten der Landeszentrale für politische Bildung unter www.lpb-bw.de.

 

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Volker Watschounek lebt und arbeitet als freier Fotograf und Journalist in Wiesbaden. SEO und SEO-gerechtes Schreiben gehören zu seinem Portfolio. Mit Search Engine Marketing kennt er sich aus. Und mit Tinte ist er vertraut, wie mit Bits und Bytes. Als Redakteur und Fotograf bedient er Online-Medien, Zeitungen, Magazine und Fachmagazine. Auch immer mehr Firmen wissen sein Know-how zu schätzen.