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Völkermord an Sinti und Roma, Fachvortrag von Dr. Karola Dings

Völkermord an den europäischen Sinti und Roma

Sie wurden erschossen, zu Tode gequält oder vergast. Die Historikerin Dr. Karola Fings hat im Rahmen der Gedenkstunde am 8. März vergangene Woche im Festsaal des Neuen Rathauses einen Vortrag über den NS-Völkermord an Sinti und Roma und fortlebenden Rassismus gehalten.

Volker Watschounek 1 Jahr vor 0

Das 20. Jahrhundert wird gemeinhin als ein Jahrhundert der Gewalt bezeichnet. Nicht nur Schachfelder rücken dabei in den Fokus, sondern vor allem die Völkermorde.

Vor 80 Jahren, am 8. März 1943, wurden mehr als 100 Sinti von Wiesbaden aus in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Anlässlich des Jahrestages der Deportation findet jedes Jahr am Mahnmal an diesem Datum eine Gedenkstunde für die deportierten und ermordeten Wiesbadener Sinti und Roma in der Bahnhofsstraße statt. In diesem Jahr hat die Historikerin Dr. Karola Fings mit einem Vortrag die Verfolgungsgeschichte und den Völkermord bereits am Vorabend die Geschichte der Sinti und Roma in den Blick genommen.

„Die Mehrheit der Sinti und Roma wurde im sogenannten Holocaust durch Kugeln ermordet. Sie wurden erschossen.“ – Dr. Karola Dings

Dr. Fings leitet das Projekt Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg. Sie war zuvor langjährige stellvertretende Leiterin des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln und unter anderem Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung im Bundesministerium des Innern.

„Im Feld ‚Besondere Merkmale‘ stand dann neben ‚Muttermal auf der linken Wange‘ auch, dass die Person auf dem Unterarm die in Auschwitz tätowierte Häftlingsnummer trägt.“ – Dr. Karola Dings

In ihrem Vortrag skizzierte Dr. Fings die Geschichte rassistischer Verfolgung der Sinti und Roma und stellte immer wieder Bezüge zur Wiesbadener Stadtgeschichte her. So berichtete sie über das Schicksal von Spinetta Weimar und Robert Ebender, die aus Wiesbaden stammten und mehrere Konzentrationslager überlebten. Sie sprach über Sylvester Lampert, der mit seiner Familie in Wiesbaden lebte. Er war von seiner Festnahme wenige Tage vor der Deportation völlig überrascht und konnte es kaum glauben als Polizisten ihn 1943 an seiner Arbeitsstelle festnahmen. Koordiniert wurden die Verfolgung und Deportation der Sinti durch die Kriminalpolizei mit Sitz in Bierstadt. Bruder Alfons, ebenso wie die meisten Mitglieder der Familie Lampert, überlebte Auschwitz nicht. An Sylvester Lampert wurden im Konzentrationslager Auschwitz medizinische Versuche durchgeführt. Die Folgen der Haft begleiteten ihn ein Leben lang. Dr. Fings wies außerdem auf das Schicksal von Siegfried Schneck hin. Er wuchs im Kinderheim Mulfingen auf. 1944 – Schneck war gerade 13 Jahre – wurde er verhaftet, nach Auschwitz gebracht und im gleichen Jahr ermordet. Schnecks Schicksal ist eines von hunderttausenden. Dr. Fings wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass das sogenannte Familienlager in Auschwitz ein Symbol für den Völkermord ist. Die Mehrheit der Sinti und Roma wurde im sogenannten Holocaust durch Kugeln ermordet. Sie wurden erschossen. Die Historikerin unterstrich ihre Feststellung mithilfe einer Karte, die Orte von Massenerschießungen auf dem heutigen Gebiet der Ukraine visualisiert.

„Ich warne davor, anzunehmen, dass die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma erst mit der Deportation 1943 ihren Auftakt nahm. Der Beginn lag deutlich weiter zurück als Sie denken.“ – Dr. Karola Fings

Auch nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager setzte sich die Verfolgung der Sinti und Roma in den deutschen Behörden fort. Sylvester Lampert wurde in Dachau befreit und kehrte nach Wiesbaden zurück. Wie Lampert versuchten alle Überlebenden in ihrem Heimatort wieder Fuß zu fassen. Schwer traumatisiert lebten sie oft zurückgezogen ohne Aussicht auf Entschädigung oder staatliche Unterstützung. Am 22. Februar 1950 legten die bundesdeutschen Finanzministerien den Runderlass E 19 an die Wiedergutmachungsbehörden vor. Die Prüfung der Anträge auf Wiedergutmachung von Sinti und Roma schrieb man dem Landesamt für Kriminal-Erkennungsdienst in Stuttgart, dem Zentralamt für Kriminal-Identifizierung und Polizeistatistik in München und der Landfahrerpolizeistelle der Landespolizei in Karlsruhe zu. Dabei handelte es sich um die Behörden, die ab 1940 die Deportationen der deutschen Sinti und Roma geplant und durchgeführt hatten. Auch personell waren die Landes- und Bundesbehörden in weiten Teilen identisch aufgestellt. Die ehemaligen Mitarbeiter der Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, kurz RHF, die für die Erfassung aller Sinti und Roma im Deutschen Reich zuständig war, waren nun für Stadtverwaltungen, Landesämter und Universitäten tätig oder hatten sich als Hausärzte niedergelassen. Stereotype aus der NS-Zeit wurden weiter genutzt, insbesondere, um Anträge von Überlebenden abzulehnen. Schlimmer noch: den Überlebenden wurde die Schuld an KZ- und Straflagerhaft zugeschrieben. Zur Begründung der Ablehnung zogen die deutschen Behörden Akten aus der NS-Zeit heran und führten diese weiter. So wurden beispielsweise Kennkarten aus dem Bestand der RHF, auf denen der Aufenthaltsort von Sinti und Roma vorgehalten wurde, ergänzt.  Im Feld ‚Besondere Merkmale‘ stand dann neben ‚Muttermal auf der linken Wange‘ auch, dass die Person auf dem Unterarm die in Auschwitz tätowierte Häftlingsnummer trägt, erklärte Fings. Die Bundesregierung erkannte 1982 den Mord an den Sinti und Roma als Völkermord an. In Hessen entstand erst auf Initiative des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma ein Hilfsfond, aus dem Unterstützungsleistungen an Überlebende gezahlt wurde.
Ich warne davor, anzunehmen, dass die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma erst mit der Deportation 1943 ihren Auftakt nahm. Der Beginn lag deutlich weiter zurück als Sie denken, schloss Dr. Karola Fings ihren Vortrag.

Ein Interview mit der Wissenschaftlerin finden Sie unter www.sueddeutsche.de.

Bild oben ©2023 LH Wiesbaden

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Informationen zum Völkermord  finden Sie auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung unter www.bpb.de.

 

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Geschrieben von

Volker Watschounek lebt und arbeitet als freier Fotograf und Journalist in Wiesbaden. SEO und SEO-gerechtes Schreiben gehören zu seinem Portfolio. Mit Search Engine Marketing kennt er sich aus. Und mit Tinte ist er vertraut, wie mit Bits und Bytes. Als Redakteur und Fotograf bedient er Online-Medien, Zeitungen, Magazine und Fachmagazine. Auch immer mehr Firmen wissen sein Know-how zu schätzen.