In Deutschland riskiert ein Politiker mit dem Nordischen Modell die Karriere – in Schweden riskiert er sie ohne.
Kerstin Neuhaus war am Mittwoch im Theater im Pariser Hof und lud Wiesbaden zur Debatte ein. Sie arbeitet für den Bundesverband Nordisches Modell, sie berät, erklärt, kontert – und sie fordert klar: „Es reicht.“ Überwiegend Frauen nahmen Platz, hörten zu, fragten nach, während Neuhaus die Nachfrageseite in den Mittelpunkt rückte und Freier als Akteure beleuchtete, nicht als Randnotiz. Das Frauenreferat Wiesbaden hatte den Abend in das Rahmenprogramm zur Ausstellung „gesichtlos – Frauen in der Prostitution“ im Kunsthaus eingebunden.
Wer sind die Freier?
Freier kommen aus allen sozialen Milieus und Glaubensrichtungen. Befragungen zeigen: Der Durchschnitt liegt bei rund 45 Jahren; die Spanne reicht von 18 bis 89. Mehr als die Hälfte (ca. 56 %) leben in einer Partnerschaft oder ist verheiratet. Einkommen und Bildungsstand streuten stark.
Neuhaus beschrieb das Nordische Modell als Vierklang: aufklären, aussteigen helfen, Betroffene entkriminalisieren, die Nachfrage – also Freier und Profiteure – sanktionieren. Sie verwies auf Erfahrungen aus Schweden, Norwegen, Island, Irland und Frankreich. Dort senkten Gesetze die Sichtbarkeit der Straßenprostitution, schreckten Käufer ab und schufen verlässliche Zugänge zu Ausstiegshilfen. Der Saal hakte nach: „Verlagert sich Prostitution ins Netz?“ Neuhaus bejahte die digitale Suche, zeigte aber, wie Polizei und Sozialarbeit genau dort ansetzen und den Behörden Chancen gebe, Freier über Chatprotokolle oder Anzeigen identifizieren.
Streitfragen aus dem Publikum
Die Diskussion zog Kreise. Besucherinnen sprachen Compliance-Regeln in Unternehmen an: Dürfen Betriebe den Besuch von Bordellen sanktionieren? Neuhaus sah darin einen wirksamen kulturellen Hebel – ähnlich wie beim Trinkgeldverbot im öffentlichen Dienst. Andere fragten nach „Abwanderung“ in Nachbarländer. Neuhaus schilderte Grenzbewegungen, plädierte aber für europäische Harmonie: Je einheitlicher die Regeln, desto weniger Schlupflöcher. Thema Steuern und Gemeindefinanzen: Vergnügungssteuer, Anmeldepflichten, Barzahlungen – Neuhaus kritisierte, dass Regulierung paradoxerweise die Schwächsten treffe und Ausbeutung nicht verhindere.
Was heißt Nordisches Modell?
Das Nordische Modell bezeichnet einen rechtspolitischen Ansatz, der Prostitution nicht als „Dienstleistung“, sondern als Form geschlechtsspezifischer Gewalt einordnet und deshalb die Nachfrage sanktioniert. Es verschiebt Verantwortung: Der Staat bestraft den Kauf sexueller Handlungen (Freier und Profiteure wie Zuhälter, ausbeuterische Betreiber), er entkriminalisiert gleichzeitig die prostituierte Person. Das Modell ruht auf vier ineinandergreifenden Säulen: Aufklärung (Schulen, Betriebe, Öffentlichkeit thematisieren Macht, Konsens, Geld), Ausstiegshilfen (Beratung, sichere Unterkünfte, Therapie, Qualifizierung, Schulden- und Rechtsberatung, mehrsprachige Zugänge), Entkriminalisierung der Betroffenen und Kriminalisierung der Nachfrage inklusive Kontrollen, Bußgeldern und strafrechtlichen Folgen.
Konkrete Praxisfragen folgten. Wie schützen Behörden Frauen, die Anzeige erstatten? Neuhaus erklärte das skandinavische Vorgehen: Zuerst klärt die Polizei Rechte und Schutz, dann vermitteln Sozialarbeiter wiederholt Hilfen – ohne Zwang, mit verlässlicher Erreichbarkeit. Und immer wieder! Die höhere Strafrahmen in Skandinavien ermöglichten Behörden eine Nachverfolgung auch noch lange nach dem Kontakt Diese Aussicht verändere das Verhalten potenzieller Käufer.
Kultur trifft Rechtspolitik
Der Abend verband Kunst, Stadtgesellschaft und Recht. Die Ausstellung „Gesichtlos“ im Kunsthaus zeigt Strukturen; die Debatte gibt einen Namen. Neuhaus nannte Prostitution eine Form von Gewalt, die Gleichstellung behindert. Sie bat, nicht über „das älteste Gewerbe“ zu sinnieren, sondern über Konsens, Macht und Geld zu reden: Wer zahlt, bestimmt den Rahmen – und übergeht oft den Willen. Der Applaus am Ende signalisierte keine Einmütigkeit, aber eine klare Bewegung: Bleibt zu wünschen, dass Deutschland wie Schweden einen Paradigmenwechsel erfährt, dass Politiker durch Unterstützung des Nordischen Modells nicht ihre Karriere schaden, sondern eher dadurch, das Modell nicht zu unterstützen. Kerstin Neuhaus wünschte sich dies, für den Fall, dass sie in fünf Jahren nopch einmal auf der Bühne im Theater im Pariser Hof stehe.