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Dr. Jakob Gutmark bei der Gedenkveranstaltung auf dem Michelsberg a 9. November. Reichsprogromnacht

Wiesbaden erinnert am Michelsberg und mahnt zur Verantwortung

Am Michelsberg erinnerte Wiesbaden an die Reichspogromnacht 1938: Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende mahnte vor wachsendem Antisemitismus, während Schüler mit Biografien, Schul- und Kindergarten-Geschichten und Szenen von Deportationen zeigten, wie sehr die Geschichte dieser Stadt bis heute Verantwortung im Alltag verlangt.

Volker Watschounek 6 Stunden vor 0

In Wiesbaden gedachten Stadt, jüdische Gemeinde und Schüler am Michelsberg der Novemberpogrome 1938 – und warnten vor Antisemitismus und Hass im Alltag.

An der Gedenkstätte der ehemaligen Synagoge am Michelsberg hat Wiesbaden am Sonntagabend des 87. Jahrestags der Reichspogromnacht gedacht. Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende, Vertreter der jüdischen Gemeinde sowie zahlreiche Bürger erinnerten bei erhöhten Sicherheitsvorkehrungen an die zerstörte Synagoge, an Entrechtung, Deportation und Mord – und an die Verantwortung der Stadtgesellschaft heute.

Das Band der Namen

Mende stellte gleich zu Beginn das Namensband ins Zentrum der Gedenkstunde. Es nenne die bekannten Opfer und gebe ihnen etwas zurück, „was ihnen damals geraubt wurde: ihre Persönlichkeit, ihre Geschichte, ihren Platz in unserer Stadt“. Die Recherche nach weiteren Namen – Opfern der Reichspogromnacht – gehe weiter, betonte er – als eine Aufgabe, die nie ende.

Erinnerung, sagte Mende, sei kein abgeschlossener Zustand, sondern ein fortdauernder Auftrag. Wer am Michelsberg gedenke, schaue nicht nur zurück, sondern immer auch auf die konkrete Gegenwart. Und diese Gegenwart stelle die Stadt vor eine unbequeme Wahrheit: „Antisemitismus ist da. Er war nie weg.“

Wiesbadens Oberbürgermeister verwies auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und schilderte, wie sich seither die Unsicherheit vieler Juden verstärkt habe. Mitglieder der Wiesbadener Gemeinde berichteten, dass sie zögerten, eine Kippa zu tragen, einen Davidstern zu zeigen oder sich offen zu ihrem Glauben zu bekennen. „Das ist nicht ihr Problem“, sagte Mende, „das ist unseres.“

Gert-Uwe Mende bei der Gedenkstunde am Michelsberg.
Gert-Uwe Mende bei der Gedenkstunde am Michelsberg.

Antisemitismus heute – und die Antwort der Stadt

Mende sprach von Hassparolen auf Demonstrationen, von digitaler Hetze in sozialen Netzwerken und von Hassbotschaften, die die jüdische Gemeinde in den vergangenen Monaten erreichten. Er warnte davor, die Freiheit der Meinungsäußerung als Deckmantel zu missbrauchen – für Diffamierung, Einschüchterung und Gewaltfantasien.

Die Gemeinde habe mit einer eindringlichen Erklärung reagiert, die man als Hilferuf verstehen müsse – nicht nur an die Politik, sondern an die ganze Stadtgesellschaft. Die Menschenkette, die am 12. Oktober als zivilgesellschaftliche Reaktion um das Gemeindezentrum entstand, beschrieb Mende als „mehr als nur symbolischen Schutz“ von Meinungs- und Religionsfreiheit. Wiesbaden, so seine Kernbotschaft, stehe fest an der Seite der jüdischen Gemeinde: „Sie ist Teil dieser Stadt, sie gehört in unsere Mitte.“

Eine Synagoge als sichtbares Versprechen

Was auf dem Michelsberg stand, bevor die Synagoge in der Reichspogromnacht brannte, riefen Schüler des Geschichtsleistungskursus des Abiturjahrgangs der Carl-von-Ossietzky-Schule in Erinnerung. Sie führten das Publikum zurück ins Jahr 1869, als die Kurstadt Wiesbaden eine prachtvolle Synagoge einweihte – kein versteckter Bau, sondern ein sichtbares Zeichen. Bunte Glasfenster, Bögen, eine mit goldenen Sternen verzierte Kuppel: 700 Menschen fanden hier Platz, feierten Gottesdienste, segneten Kinder, schlossen Ehen, suchten Trost und Hoffnung.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten brach dieses Versprechen. Die Jugendlichen zeichneten nach, wie Boykotte jüdischer Geschäfte begannen, wie jüdische Menschen Ämter verloren, wie die Nürnberger Gesetze sie zu Bürgern zweiter Klasse stempelten. In der Nacht des 9. November 1938 stürmten Zerstörungstrupps die Synagoge am Michelsberg, schlugen Fenster ein, demolierten Läden, warfen Waren auf die Straße. Die Feuerwehr durfte in der Reichspogromnacht am Ende nur noch verhindern, dass die Flammen auf Nachbarhäuser übergriffen.

Kindergarten, Schule, letzte Inseln des Alltags

Besonders eindringlich waren die Beiträge der Jugendlichen des schulübergreifenden Kurses Jüdische Religion und des Jugendzentrums Oz. Sie erzählten vom jüdischen Kindergarten und der jüdischen Volksschule. Ein Haus, finanziert durch Spenden jüdischer Frauen, welches Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren einen geschützten Raum bot. Hier spielten sie, hier lernten sie, während draußen Ausgrenzung wuchs.

Mit bürokratischen Schreiben entzog der Staat dem Kindergarten das Gebäude, verweigerte jede Unterstützung und lehnte es ab, die Einrichtung mit der jüdischen Schule zu verbinden. Die Gemeinde stand vor der Wahl: schließen oder die Kosten allein tragen. Sie entschied sich, den Kindergarten aus eigenen Mitteln weiterzuführen – so lange es eben ging.

Auch die jüdische Volksschule an der Mainzer Straße, die 1936 entstand, stand im Fokus. Sie war Antwort und Notlösung zugleich, nachdem jüdische Kinder die allgemeinen Schulen verlassen mussten. Lehrer unterrichteten mit knappen Mitteln, oft ohne passende Lehrbücher, aber mit klarer Haltung: Sie wollten Bildung sichern, Identität stärken und die Kinder auf ein mögliches Leben in Eretz Israel vorbereiten. Englisch und Neuhebräisch gehörten zum Unterricht, ebenso handwerkliche und landwirtschaftliche Fähigkeiten.

Parallel dazu schilderten die Jugendlichen die gescheiterte Initiative, in der Kapellenstraße 66 eine jüdische Schule einzurichten. Offiziell argumentierten Anwohner mit Lärmbefürchtungen, in Wahrheit trug Antisemitismus die Entscheidung. Unter Berufung auf Baupolizeiverordnungen lehnte die Stadt das Projekt ab, die NSDAP-Kreisleitung stützte den Kurs.

Die Schüler des Geschichtsleistungskurses halten am Ende der szenischen Lesung Bilder der genannten Personen hoch.

Biografien, die Gesichter geben

Zwischen den historischen Verdichtungen stellten die Oberstufenschüler konkrete Biografien vor. Alice Dora und Edmund Kappell, die als „Mutter der Gemeinde“ und als zurückhaltender Kaufmann halfen, bis sie 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurden.

Paul Kessler, 1925 in Wiesbaden geboren, sah mit 13 Jahren das Geschäft seiner Eltern verwüstet, verlor über Nacht den Zugang zur Schule und gelangte nur durch einen Kindertransport nach Schweden in Sicherheit. Seine Eltern deportierte das Regime nach Theresienstadt und ermordete sie später in Auschwitz.

Der Jurist Berthold Gutmann, dem man 1933 die Zulassung entzog, blieb als Vertreter der jüdischen Gemeinde in Wiesbaden, geriet nach der Pogromnacht in Buchenwald, kehrte zurück, musste als Mittler zwischen Behörden und den verbliebenen Juden wirken – und wurde 1944 nach Auschwitz deportiert.

Die Jugendlichen erinnerten an die Verladerampe am Schlachthof. Dort, wo früher Tiere in Waggons gelangten, mussten ab 1942 alte Menschen, Kranke und Kinder warten, bevor Züge sie nach Theresienstadt brachten – in ein Lager der Not, der Krankheit, des Mangels.

Jugend spricht, Stadt hört zu

Unter dem Titel „Was geschehen ist, ist geschehen“ zitierten die Schüler Anita Lasker-Wallfisch, die Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, und erinnerten an ihren Satz: „Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mit einem Strich ausgelöscht werden.“

Sie griffen die mahnenden Worte Willy Brandts von 1992 auf – „Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem Nächsten den Weg“ – und stellten klar, dass Erinnerung nur dann trägt, wenn sie Haltung im Alltag formt: in der Sprache, im Netz, in der politischen Debatte.

Mende nahm diesen Faden in seiner Regde Vorweg. Er erinnerte an Margot Friedländer und ihren Appell „Seid Menschen“ und versprach, dass Wiesbaden weiter für Menschlichkeit, Zusammenhalt und gegenseitigen Respekt eintreten werde. „Nie wieder“, sagte er, „ist jetzt – heute, morgen und an jedem anderen Tag.“

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Weitere Informationen zur Reichspogromnacht finden Sie auf den Internetseiten der Landeszentrale für politische Bildung unter www.lpb-bw.de.

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