Wiesbadens Neujahrsempfang stand im Zeichen von Demokratie und Zusammenhalt. Oberbürgermeister Mende und Michel Friedman mahnten: Freiheit und Werte müssen aktiv verteidigt werden.
Beim Neujahrsempfang der Landeshauptstadt Wiesbaden kamen am Samstag Bürger, Politiker sowie Vertreter aus Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft zusammen. Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende nutzte die Gelegenheit, um das vergangene Jahr zu reflektieren, einen Blick in die Zukunft zu wagen und ein klares Bekenntnis zur Demokratie abzugeben. Gastredner Michel Friedman knüpfte an und stellte die entscheidende Frage: Haben wir uns als Demokraten überschätzt?
Ein Empfang mit besonderer Bedeutung
Es war keine routinierte Veranstaltung mit wohlklingenden Floskeln. Mende begrüßte die Gäste im gut gefüllten Festsaal – darunter Staatsminister Jürgen Decker, die Ehrenbürger Rudi Schmit (SPD), Jörg Jordan (SPD) sowie Rheinhard Ernst, Ex-Oberbürgermeister Achim Exner (SPD) und viele andere. Der Empfang wurde zu mehr als einem symbolischen Treffen. Im Zentrum stand die Frage: Wie wehrhaft ist unsere Demokratie – und wie groß ist die Gefahr durch Extremismus und Autokratie?
Diese Frage stellte besonders der Hauptredner, der Publizist und Philosoph Michel Friedman. Mit einer leidenschaftlichen Rede zeigte er auf, warum die Demokratie ins Wanken geraten könnte.
„Haben wir uns als Demokraten überschätzt?“
Friedman begann seine Rede mit einer provokanten Frage: Haben wir uns als Demokraten überschätzt? Der Philosoph und Publizist verwies darauf, dass viele Bürger in Deutschland und Europa glaubten, Demokratie sei ein stabiles, nahezu unzerstörbares System. Doch die Realität sehe anders aus: Wir haben jahrzehntelang gedacht, die Demokratie sei selbstverständlich. Wir glaubten, dass das Grundgesetz, die europäischen Werte und die offene Gesellschaft unangreifbar seien. Doch wir haben nicht genug getan, um diese Werte zu verteidigen. Und jetzt sehen wir: Die Demokratie ist nicht unantastbar. Sie wird angegriffen – von innen und von außen.
Friedman warnte, dass die Mechanismen der Demokratie genau dann versagen, wenn ihre Verteidiger zu selbstzufrieden werden. Viele Demokraten wachen erst auf, wenn es zu spät ist.Wenn das gesellschaftliche Klima bereits gekippt sei. Dann, wenn Extremisten nicht mehr nur protestieren, sondern regieren würden.
Die Gefahr der Normalisierung
Besonders besorgt zeigte sich der Publizist über die Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses. Was einst undenkbar war, werde heute zunehmend als akzeptabel betrachtet. Schauen wir uns an, wie politische Begriffe plötzlich umgedeutet werden. Wie sich die Sprache ändert. Begriffe wie ‚Remigration‘ – vor wenigen Jahren noch ein klarer Begriff aus dem rechtsextremen Spektrum – werden plötzlich in Talkshows diskutiert, als wäre es eine legitime politische Position. Das sei brandgefährlich. Er warnte vor einer schleichenden Gewöhnung an extremistische Positionen und erinnerte an die Geschichte, – daran, dass Diktaturen nicht über Nacht kämen. Sie entstünden, wenn Demokratien zu lange tatenlos zusähen.
„Die größte Bedrohung für die Demokratie ist Gleichgültigkeit“
Michel Friedman stellte klar: Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie lebt davon, dass sich Menschen aktiv für sie einsetzen. Und genau hier liege das Problem: Wir erleben in vielen Teilen Europas eine gefährliche Gleichgültigkeit. Die Menschen sagen: ‚Es wird schon nicht so schlimm kommen‘. Oder: ‚Was kann ich als Einzelner schon tun?‘. Aber genau diese Haltung ist es, die Autokraten stark macht. Er verwies auf die aktuellen Entwicklungen in Ungarn, Polen und Italien. Die Demokratie wird nicht nur von ihren Feinden bedroht. Sie wird auch von denen gefährdet, die sie nicht aktiv verteidigen. Seine klare Botschaft: Jeder, der nicht handelt, handelt trotzdem – aber für die Falschen.

Optimismus als Verantwortung – aber nicht als Illusion
Trotz aller Warnungen war Friedman kein reiner Pessimist. Er griff die Worte von des Philosophen Immanuel Kant auf, die zuvor Wiesbadens Oberbürgermeister zitierte: Zum Optimismus gibt es keine vernünftige Alternative und ergänzte, dass Optimismus nicht mit Naivität verwechselt werden dürfe. Dass Optimismus nicht heiße, die Probleme zu ignorieren. Optimismus bedeutet, sich den Problemen zu stellen und zu sagen: Wir können es besser machen.
Friedmann forderte, dass die Gesellschaft wieder politischer werde, dass Diskussionen geführt, Widerspruch geäußert und demokratische Werte aktiv verteidigt werden. Es reicht nicht, einmal im Jahr zur Wahl zu gehen. Demokratie ist ein täglicher Prozess. Sie braucht Widerspruch. Sie braucht Haltung. Sie braucht Mut.
Ein Weckruf an Wiesbaden – und an Deutschland
Am Ende seiner Rede war klar: Dieser Neujahrsempfang war kein gewöhnlicher Empfang. Michel Friedman hatte nicht nur gesprochen – er hatte die Anwesenden wachgerüttelt. Sein letzter Satz hallt im Festsaal nach: „Es gibt keine Ausrede. Die Demokratie braucht euch – jetzt!“
Standing Ovation: Der Applaus war lang und intensiv. Viele Gäste diskutierten nach der Rede weiter, einige sichtlich bewegt.
Foto – Michel Friedmann © 2025 Volker Watschounek
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